Die stille Qual hinter Gitterstäben
Die Realität in deutschen Haushalten sieht oft erschreckend aus: Ein Kaninchen hockt in einem 80×50 Zentimeter großen Käfig, umgeben von den eigenen vier Wänden seiner Menschen. Kein Platz zum Haken schlagen, kein Raum für Luftsprünge, keine Möglichkeit zu rennen. Was viele Halter nicht wissen – sie fügen ihren pelzigen Mitbewohnern damit unbeabsichtigt enormes Leid zu.
Kaninchen sind keine bewegungsfaulen Stubenhocker. In der Natur legen sie täglich zwischen einem und drei Kilometern zurück, Männchen sogar noch mehr. Sie sprinten mit Geschwindigkeiten von bis zu 40 Stundenkilometern und vollführen beeindruckende Luftsprünge aus purer Lebensfreude. Diese genetisch verankerten Bedürfnisse verschwinden nicht, nur weil ein Tier in menschlicher Obhut lebt. Die Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz betont in ihren Empfehlungen, dass Kaninchen einen Bewegungsraum von mindestens sechs Quadratmetern rund um die Uhr benötigen – ein handelsüblicher Käfig bietet gerade einmal 0,4 Quadratmeter.
Die Folgen der Käfighaltung manifestieren sich auf verschiedenen Ebenen. Körperlich entwickeln die Tiere durch den extremen Bewegungsmangel eine deutliche Muskelschwäche, insbesondere in den kräftigen Hinterläufen. Die Muskulatur, die eigentlich für kraftvolle Sprünge konzipiert ist, verkümmert zusehends. Gleichzeitig steigt das Körpergewicht dramatisch an, da die Energieaufnahme nicht durch Bewegung kompensiert werden kann.
Wenn die Seele leidet
Noch gravierender als die physischen Schäden sind häufig die psychischen Konsequenzen. Verhaltensbiologen beobachten ausgeprägte Stereotypien bei dauerhaft in Käfigen gehaltenen Kaninchen – zwanghafte, sich ständig wiederholende Verhaltensweisen ohne erkennbaren Zweck. Gitterklettern, exzessives Gitternagen, stundenlange Bewegungslosigkeit oder rastloses Im-Kreis-Laufen sind Hilferufe einer überforderten Psyche.
Manche Kaninchen entwickeln eine erlernte Hilflosigkeit. Sie sitzen apathisch in der Ecke, haben jeden Lebenswillen verloren und reagieren kaum noch auf Umweltreize. Andere schlagen in die gegenteilige Richtung aus und zeigen massive Aggressionen gegenüber ihren Haltern – ein verzweifelter Versuch, die eigene Situation zu ändern.
Der Dominoeffekt auf die Gesundheit
Die gesundheitlichen Probleme durch Käfighaltung sind vielfältig und oft irreversibel. Übergewicht bei Kaninchen ist keine harmlose Randerscheinung, sondern führt zu einer gefährlichen Kettenreaktion. Verfettete Tiere können sich nicht mehr richtig putzen, was zu massiven Hygieneproblemen führt. Besonders kritisch wird es im Analbereich, wo sich Kot festsetzt und die gefürchtete Fliegenmadenkrankheit begünstigt – eine potenziell tödliche Erkrankung.
Die Wirbelsäule leidet unter dem Übergewicht und der falschen Belastung. Bandscheibenvorfälle und Spondylosen sind bei bewegungsarmen Kaninchen deutlich häufiger dokumentiert. Hinzu kommt die mangelnde Abnutzung der Krallen, die ungebremst weiterwachsen und sich schmerzhaft in die Ballen einrollen können. Ein besonders heimtückisches Problem sind bewegungsbedingte Skeletterkrankungen. Kaninchenknochen benötigen mechanische Belastung durch Sprünge und Sprints, um ihre Struktur zu erhalten. Fehlt diese Stimulation, werden die Tiere anfälliger für Knochenprobleme. Selbst harmlose Stürze können dann zu komplizierten Brüchen führen, insbesondere der empfindlichen Lendenwirbelsäule.

Artgerechte Alternativen zur Käfighaltung
Die gute Nachricht: Es gibt praktikable Lösungen, die sich in nahezu jeder Wohnsituation umsetzen lassen. Das Konzept der Innenhaltung muss nicht aufgegeben werden – es bedarf lediglich einer grundlegend anderen Herangehensweise. Handelsübliche Käfige sollten maximal als Rückzugsort innerhalb eines großzügigen Geheges dienen, nicht als alleiniger Lebensraum. Die Bundestierärztekammer vertritt seit 2011 die klare Position, dass eine tier- und artgerechte Haltung von Kaninchen in Käfigen nicht möglich ist.
Modulare Gitterelemente ermöglichen den Bau individueller Gehege ab sechs Quadratmetern Grundfläche. Diese können an die Raumgeometrie angepasst werden und bieten den Tieren ausreichend Bewegungsfreiheit für kurze Sprints und kleine Haken. Die optimale Lösung ist die vollständig freie Wohnungshaltung, bei der Kaninchen wie Katzen als vollwertige Mitbewohner leben. Ein kaninchensicheres Zimmer oder eine abgetrennte Wohnungsecke mit Buddelkiste, Verstecken und Erhöhungen ermöglicht ein nahezu natürliches Bewegungsmuster. Entgegen weit verbreiteter Befürchtungen lassen sich Kaninchen hervorragend an Toilettenecken mit Katzenklos gewöhnen.
Strukturierung des Lebensraums
Größe allein genügt nicht – die Qualität des Lebensraums entscheidet über das Wohlbefinden. Kaninchen brauchen verschiedene Funktionsbereiche: erhöhte Aussichtsplattformen, dunkle Unterschlüpfe, grabfähiges Substrat und unterschiedliche Untergründe. Rampen und Etagen schaffen zusätzliche Bewegungsanreize und trainieren die Muskulatur auf natürliche Weise.
Besonders wichtig ist die Möglichkeit zu graben. Das Buddeln ist ein Grundbedürfnis, dessen Unterdrückung zu massivem Stress führt. Eine mit Erde, Sand oder Heu gefüllte Buddelkiste wird intensiv genutzt und fördert gleichzeitig die körperliche Aktivität. Wer sein Kaninchen bisher im Käfig gehalten hat, sollte die Umstellung behutsam angehen. Lange eingesperrte Tiere sind oft unsicher und überfordert mit plötzlicher Freiheit. Eine schrittweise Vergrößerung des Bewegungsraums gibt ihnen Zeit zur Anpassung.
Der Weg aus der Käfighaltung
Gleichzeitig muss die Muskulatur langsam wieder aufgebaut werden – ähnlich einem Rehabilitationsprogramm nach längerer Bettlägerigkeit beim Menschen. Übergewichtige Kaninchen benötigen zusätzlich eine Ernährungsanpassung mit mehr Grünfutter und unbegrenztem Heu statt kaloriendichtem Trockenfutter. Die Kombination aus Diät und gesteigerter Bewegung führt meist innerhalb weniger Monate zu deutlichen Verbesserungen.
Kaninchen können uns nicht mit Worten sagen, dass sie leiden. Sie zeigen es durch zurückgezogenes Verhalten, durch stereotypes Gitternagen oder durch stumpfes Fell und trübe Augen. Als Menschen tragen wir die Verantwortung, diese Zeichen zu erkennen und zu handeln. Die Entscheidung für ein Haustier ist immer auch die Verpflichtung, dessen grundlegendste Bedürfnisse zu erfüllen – und Bewegung gehört für Kaninchen zweifelsfrei dazu.
Niemand würde einen Hund sein Leben lang in einer Transportbox halten. Bei Kaninchen wird diese offensichtlich tierquälerische Praxis jedoch noch immer als normal angesehen. Es ist höchste Zeit für ein Umdenken. Jedes Kaninchen verdient ein Leben, in dem es seine natürlichen Verhaltensweisen ausleben kann – ein Leben in Bewegung, nicht in Erstarrung hinter Gittern.
Inhaltsverzeichnis
