Wenn dein Job dich tötet – aber nicht wegen zu viel Arbeit
Kennst du das Gefühl, wenn du morgens aufwachst und schon beim Gedanken an die Arbeit ein bleiernes Gewicht auf deiner Brust spürst? Nicht, weil du zu viel zu tun hast, sondern weil du weißt, dass die nächsten acht Stunden absolut sinnlos sein werden. Du sitzt im Büro, starrst auf den Bildschirm, checkst zum dreißigsten Mal deine E-Mails und fragst dich, wie es möglich ist, dass erst zehn Minuten vergangen sind. Willkommen in der bizarren Welt des Boreout-Syndroms – der psychologischen Störung, über die niemand spricht, weil sie sich einfach zu absurd anhört.
Während alle ständig über Burnout reden und sich damit fast schon brüsten, wie überlastet sie sind, gibt es da draußen Menschen, die am anderen Ende des Spektrums leiden. Sie haben nicht zu viel zu tun. Sie haben zu wenig zu tun. Oder genauer gesagt: zu wenig Sinnvolles zu tun. Und das Verrückte daran? Es macht sie genauso fertig wie einen 80-Stunden-Job.
Was zum Teufel ist Boreout überhaupt?
Der Begriff Boreout wurde 2007 von zwei Schweizer Unternehmensberatern namens Philippe Rothlin und Peter Werder geprägt. In ihrem Buch „Diagnose Boreout“ beschrieben sie ein Phänomen, das sie in ihrer Beratungspraxis immer häufiger sahen: Leute, die nicht an Überlastung kaputtgingen, sondern an Unterlastung. An einem Job, der sie nicht forderte. An Aufgaben, die ein trainierter Affe erledigen könnte. An einem Arbeitstag, der sich anfühlte wie Warten auf den Tod.
Das Sanitas Magazine definiert Boreout als einen Zustand der mentalen Unterstimulation, der durch drei Hauptmerkmale gekennzeichnet ist: chronische Langeweile, berufliche Unterforderung und wachsendes Desinteresse an der eigenen Arbeit. Der Psychiater Manuel Cattapan beschreibt es als eine Trias der Sinnlosigkeit, die Menschen systematisch zermürbt.
Aber hier kommt der wichtige Teil: Boreout ist kein offiziell anerkanntes klinisches Störungsbild wie Depression oder Angststörung. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat Burnout als arbeitsplatzbezogenes Syndrom aufgenommen, Boreout steht nicht in ihren Klassifikationen. Trotzdem ist es ein reales populärpsychologisches Konzept, das beschreibt, was Tausende Menschen täglich durchmachen.
Warum Langeweile dich genauso kaputt macht wie Stress
Hier wird es psychologisch interessant. Unser Gehirn ist darauf ausgelegt, Stimulation zu bekommen. Das ist keine Lifestyle-Frage, sondern pure Biologie. Die sogenannte Optimal-Arousal-Theorie besagt, dass wir Menschen ein bestimmtes Level an Anregung brauchen, um funktionsfähig zu bleiben. Zu viel davon? Überlastung und Burnout. Zu wenig davon? Unterstimulation und Boreout.
Das Gehirn reagiert auf chronische Unterforderung mit Stressreaktionen. Klingt paradox, ist aber so. Wenn du acht Stunden am Tag so tun musst, als wärst du beschäftigt, während deine Fähigkeiten verkümmern und du keinen Sinn in deiner Tätigkeit siehst, versetzt das deinen Körper in einen Zustand permanenter Anspannung. Dein Gehirn rebelliert gegen die Bedeutungslosigkeit.
Das führt zu einem fiesen Teufelskreis: Unterforderung macht dich demotiviert. Demotivation lässt dich noch passiver werden. Du ziehst dich innerlich zurück, fühlst dich von deiner Arbeit entfremdet. Diese Entfremdung verstärkt das Gefühl der Sinnlosigkeit. Und schwupps, steckst du in einer Abwärtsspirale fest, aus der du allein kaum noch rauskommst.
Die Symptome: Mehr als nur Gähnen am Schreibtisch
Boreout zeigt sich auf vielfältige Weise, und viele Symptome überschneiden sich mit denen von Burnout – was die Sache noch komplizierter macht. Die Erschöpfung ist absolut real und kann lähmend sein, auch wenn sie durch scheinbares Nichtstun entsteht.
Zu den häufigsten Anzeichen gehört eine tiefe, chronische Müdigkeit, die auch nach dem Wochenende nicht verschwindet. Betroffene berichten von einer inneren Leere und dem nagenden Gefühl, dass ihre Tage absolut bedeutungslos sind. Die Motivation sinkt nicht nur für die Arbeit, sondern breitet sich wie ein Virus auch auf andere Lebensbereiche aus. Viele entwickeln Schlafstörungen – aber nicht, weil sie abends nicht abschalten können, sondern weil ihr Schlaf-Wach-Rhythmus durcheinandergerät, wenn sie tagsüber nicht wirklich gefordert werden.
Psychiater Manuel Cattapan weist darauf hin, dass auch massive Angstgefühle auftreten können: die Angst, als fauler Nichtsnutz entdeckt zu werden, die Angst vor beruflicher Stagnation, die Angst davor, die eigenen Fähigkeiten zu verlieren und nie wieder auf den Stand zu kommen, den man mal hatte. Dazu kommt ein starkes Gefühl der Entfremdung – nicht nur vom Job, sondern auch von sich selbst. Die Frage „Was mache ich hier eigentlich mit meinem Leben?“ wird zum ständigen Begleiter.
Psychologen beobachten auch das Phänomen des Presenteeism – du bist körperlich am Arbeitsplatz anwesend, aber mental komplett abwesend. Deine Gedanken sind überall, nur nicht bei der Arbeit. Das kostet enorme mentale Energie, weil du ständig eine Fassade aufrechterhalten musst. Du musst so tun, als würdest du arbeiten, während innerlich absolute Leere herrscht.
Die stille Scham: Das größte Problem überhaupt
Hier liegt der eigentliche Kern des Problems. Über Burnout kann man heute offen reden. „Ich bin so gestresst, ich habe so viel zu tun!“ ist gesellschaftlich akzeptiert und fast schon ein Statussymbol geworden. Aber wenn du zugibst, unterfordert zu sein? Dann giltst du als undankbar, faul oder inkompetent.
Diese stille Scham führt dazu, dass Betroffene ihr Leiden komplett verbergen. Sie entwickeln ausgeklügelte Strategien, um beschäftigt auszusehen: Sie verlangsamen ihre Arbeit künstlich, surfen verstohlen im Internet, machen überlange Kaffeepausen, erfinden komplizierte Umwege für simple Aufgaben oder sitzen einfach da und starren konzentriert auf den Bildschirm, während sie innerlich abdriften. Diese permanente Schauspielerei ist psychisch extrem belastend und verstärkt das Gefühl der Unaufrichtigkeit.
Die Folge: Viele leiden still und suchen die Schuld bei sich selbst. „Was stimmt nicht mit mir, dass ich nicht mal mit diesem lächerlich einfachen Job klarkomme?“ Diese Selbstentwertung kann langfristig zu schweren Depressionen und Angststörungen führen. Manche entwickeln ungesunde Bewältigungsstrategien wie erhöhten Alkoholkonsum oder andere Süchte, um die innere Leere zu betäuben.
Moderne Arbeitswelten: Perfekte Brutstätten für Boreout
Bestimmte Arbeitsbedingungen sind praktisch eine Einladung für Boreout. Repetitive Aufgaben ohne jede Abwechslung oder Entwicklungsmöglichkeiten sind klassische Auslöser. Wenn du Tag für Tag dieselben monotonen Tätigkeiten ausführst und keine Perspektive für Veränderung siehst, ist Unterforderung vorprogrammiert.
Auch Überqualifikation spielt eine massive Rolle. Wenn jemand mit Hochschulabschluss jahrelang Aufgaben erledigt, die weit unter seinen Qualifikationen liegen, bleiben Fähigkeiten nicht nur ungenutzt – sie verkümmern aktiv. Das Potenzial stirbt langsam ab, und mit ihm die berufliche Identität.
Der Psychologe und Bestseller-Autor Adam Grant weist darauf hin, dass insbesondere die Zunahme von Remote Work und hybriden Arbeitsmodellen das Problem verschärfen kann. Wenn soziale Kontakte wegfallen, monotone Aufgaben noch isolierter erledigt werden und niemand mehr wirklich mitbekommt, wie wenig du tatsächlich zu tun hast, wird das Gefühl der Sinnlosigkeit noch intensiver.
Interessanterweise sind auch scheinbar privilegierte Positionen betroffen. Umfragen unter US-Managern zeigen, dass ein signifikanter Anteil unter Symptomen leidet, die mit Unterforderung zusammenhängen – endlose sinnentleerte Meetings, bürokratische Routinen und das Gefühl, nichts wirklich Bedeutsames zu bewegen, trotz des fancy Titels auf der Visitenkarte.
Boreout vs. Burnout: Die zwei Gesichter der Arbeitserschöpfung
Boreout und Burnout sind in gewisser Weise Spiegelbilder. Beide führen zu Erschöpfung, Distanzierung von der Arbeit und einem Gefühl verminderter Leistungsfähigkeit – genau die drei Kerndimensionen, die auch die WHO in ihrer Burnout-Definition nennt. Aber die Ursachen könnten nicht unterschiedlicher sein.
Burnout entsteht durch Überforderung, zu viele Anforderungen, chronischen Zeitdruck und das Gefühl, den Anforderungen nicht mehr gewachsen zu sein. Boreout entwickelt sich aus Unterforderung, zu wenigen sinnvollen Aufgaben und dem Gefühl, die Zeit nur noch absitzen zu müssen. Burnout-Betroffene haben zu viel auf dem Teller. Boreout-Betroffene haben zu wenig Substanzhaftes auf ihrem Teller.
Trotzdem ist die Erschöpfung bei beiden absolut real. Das zeigt, wie komplex unser Verhältnis zu Arbeit und Leistung ist. Es geht nicht nur um die Menge der Anforderungen, sondern vor allem um die Qualität: Sind die Aufgaben sinnvoll? Entsprechen sie deinen Fähigkeiten? Siehst du einen Zweck in dem, was du tust?
Die langfristigen Folgen: Wenn Langeweile krankmacht
Was als chronische Langeweile beginnt, kann ernsthafte gesundheitliche Konsequenzen haben. Psychologen warnen, dass langanhaltende Unterforderung und Sinnlosigkeitsgefühle zu klinischen Depressionen führen können. Die ständige innere Leere, das Gefühl der Wertlosigkeit und die komplette Perspektivlosigkeit sind idealer Nährboden für depressive Erkrankungen.
Auch Angststörungen können sich entwickeln, besonders die Angst vor der Zukunft und vor dem Verlust der eigenen Kompetenzen. Die Frage „Was bin ich noch wert, wenn ich jahrelang nichts Anspruchsvolles gemacht habe?“ kann zur Quelle massiver Zukunftsängste werden. Dein Lebenslauf weist Lücken auf, nicht zeitlich, aber qualitativ. Du hast Jahre in einem Job verbracht, aus dem du nichts mitgenommen hast.
Dazu kommen psychosomatische Beschwerden: Kopfschmerzen, Magen-Darm-Probleme, Verspannungen, Herz-Kreislauf-Beschwerden. Der Körper reagiert auf den psychischen Stress mit physischen Symptomen. Manche Betroffene entwickeln Suchtverhalten, um die innere Leere zu betäuben – Alkohol, Online-Gaming, exzessives Shopping, Social-Media-Konsum bis zur Abhängigkeit.
Die beruflichen Folgen sind ebenfalls verheerend: Stagnation in der Karriere, Verlust von Fähigkeiten und Selbstvertrauen, und letztlich eine wachsende Kluft zwischen dem, was du eigentlich könntest, und dem, was du tatsächlich machst.
Der erste Schritt: Ehrlichkeit mit dir selbst
Die Identifikation des Problems ist tatsächlich der wichtigste Schritt zur Veränderung. Solange du dir nicht eingestehst, dass nicht du das Problem bist, sondern die Situation, bleibst du in der Schleife gefangen. Es ist keine Schwäche, unterfordert zu sein. Es ist kein persönliches Versagen, wenn dein Job deine Fähigkeiten nicht nutzt.
Frag dich ehrlich: Wie viel deiner Arbeitszeit füllst du mit wirklich sinnvollen, herausfordernden Aufgaben? Wie oft schaust du auf die Uhr und bist schockiert, dass erst so wenig Zeit vergangen ist? Wie häufig fühlst du dich nach der Arbeit leer statt erfüllt? Wenn diese Muster über Wochen und Monate anhalten, könnte Boreout dahinterstecken.
Wichtig: Es geht nicht um gelegentliche Langeweile. Jeder Job hat langweilige Momente. Auch in spannenden Berufen gibt es öde Routineaufgaben. Boreout entsteht, wenn die Unterforderung zum Dauerzustand wird und zum prägenden Merkmal deines gesamten Arbeitslebens.
Was du konkret tun kannst
Wenn du Boreout bei dir erkennst, gibt es verschiedene Ansätze. Der erste – und zugegebenermaßen schwierigste – ist das Gespräch mit deinen Vorgesetzten. Aber Vorsicht in der Formulierung: Sag nicht „Ich habe zu wenig zu tun“, sondern rahme es positiv: „Ich habe Kapazitäten für zusätzliche Projekte“ oder „Ich würde gerne mehr Verantwortung übernehmen“. Formuliere es als Motivation und Engagement, nicht als Beschwerde.
Suche aktiv nach Herausforderungen in deinem aktuellen Umfeld. Gibt es Projekte, bei denen du dich einbringen könntest? Könntest du Prozesse verbessern, Kollegen unterstützen oder neue Kompetenzen entwickeln? Manchmal lässt sich auch ein unterfördernder Job durch massive Eigeninitiative anreichern. Biete an, Aufgaben zu übernehmen, die andere nicht machen wollen.
Wenn das alles nicht funktioniert, ist es vielleicht Zeit für einen Jobwechsel oder eine berufliche Neuorientierung. Das klingt radikal, aber langfristig ist es gesünder, einen Job zu finden, der dich fordert und erfüllt, als jahrelang in einer sinnentleerten Position zu verharren und dabei psychisch kaputtzugehen. Deine mentale Gesundheit und deine berufliche Entwicklung sind es wert.
Parallel dazu kann es helfen, außerhalb der Arbeit Sinnquellen zu finden: anspruchsvolle Hobbys, ehrenamtliches Engagement, kreative Projekte, Weiterbildungen. Das ersetzt nicht einen erfüllenden Job, kann aber helfen, das allgemeine Lebensgefühl zu stabilisieren und einen Ausgleich zu schaffen. Es gibt dir etwas, auf das du dich freuen kannst, und etwas, bei dem du wachsen kannst.
Warum wir als Gesellschaft über Boreout reden müssen
Boreout verdient mehr Aufmerksamkeit in der öffentlichen Diskussion über Arbeitsgesundheit. Während Burnout-Prävention mittlerweile in vielen Unternehmen etabliert ist, wird die Kehrseite – die systematische Unterforderung – komplett übersehen. Dabei sind die Kosten erheblich: für Betroffene in Form von Leid und gesundheitlichen Problemen, für Unternehmen durch verminderte Produktivität, innerliche Kündigung und hohe Fluktuation.
Eine Arbeitskultur, die nur auf Überlastungsprävention achtet, greift zu kurz. Echte Arbeitsgesundheit bedeutet auch, Menschen so einzusetzen, dass ihre Fähigkeiten tatsächlich genutzt werden, dass sie angemessene Herausforderungen bekommen und einen Sinn in ihrer Tätigkeit sehen können. Es geht um die Balance zwischen Über- und Unterforderung.
Die zunehmende Verbreitung von Remote Work und digitalen Arbeitsformen macht das Thema noch relevanter. Wenn die natürliche soziale Kontrolle und der informelle Austausch fehlen, kann Unterforderung schneller unbemerkt bleiben – sowohl von Führungskräften als auch von Kollegen. Niemand sieht, dass du den ganzen Tag quasi nichts machst, weil du nichts Sinnvolles zu machen hast.
Dein Recht auf Herausforderung
Boreout ist real, auch wenn es kein offizielles klinisches Störungsbild ist und nicht in der WHO-Klassifikation steht. Die Erschöpfung durch chronische Unterforderung ist genauso legitim wie die durch Überforderung. Du hast ein verdammtes Recht darauf, in deinem Job gefordert zu werden, deine Fähigkeiten einzusetzen und einen Sinn in deiner Arbeit zu finden.
Wenn du erkennst, dass du betroffen sein könntest, ist das kein Grund zur Scham, sondern ein Weckruf. Dein Unbehagen ist absolut berechtigt. Deine Unzufriedenheit ist ein Signal, dass etwas fundamental nicht stimmt – nicht mit dir, sondern mit deiner beruflichen Situation.
Die gute Nachricht: Anders als bei vielen anderen psychischen Belastungen liegt die Lösung oft greifbar nahe. Manchmal reicht ein mutiges Gespräch, ein Projektwechsel oder die Entscheidung für eine berufliche Veränderung. Dein Gehirn will stimuliert werden, deine Fähigkeiten wollen genutzt werden, und du verdienst es, morgens mit dem Gefühl aufzuwachen, dass das, was du tust, tatsächlich Bedeutung hat.
Das Bewusstsein für Boreout wächst langsam, und das ist ein wichtiger erster Schritt. Je mehr Menschen verstehen, dass chronische Unterforderung genauso krankmachen kann wie chronische Überforderung, desto eher werden Lösungen möglich – individuell und gesellschaftlich. Nimm deine Gefühle ernst, sprich über sie, und scheue dich nicht, Veränderungen anzustreben. Ein Leben ist zu kurz, um es mit sinnlosem Rumsitzen zu verschwenden.
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