Was ist das Hochstapler-Syndrom und warum trifft es ausgerechnet die Leute, die richtig abliefern?
Du hast gerade ein Projekt gerockt. Dein Chef lobt dich vor dem ganzen Team. Alle nicken anerkennend. Und während die Kollegen dir gratulieren, schreit eine Stimme in deinem Kopf: „Die checken nicht, dass ich null Ahnung hatte. Pure Glückssache. Nächstes Mal fliege ich auf.“ Wenn dir das bekannt vorkommt, willkommen im Club der Menschen mit Hochstapler-Syndrom – und nein, du bist nicht verrückt.
Hier kommt der Mind-Blow: Dieses Phänomen trifft nicht die Leute, die gerade erst anfangen oder die mittelmäßige Arbeit abliefern. Es trifft die Top-Performer. Die Hochqualifizierten. Die, die objektiv gesehen richtig gut sind in dem, was sie tun. Klingt absurd? Ist es auch. Und genau deshalb müssen wir darüber reden.
Das Paradox, das Erfolgreiche zu wandelnden Nervenbündeln macht
Das Hochstapler-Syndrom – in der Psychologie als Impostor-Phänomen bekannt – wurde erstmals 1978 von Clance und Imes beschrieben. Sie beobachteten etwas Bizarres: Hochintelligente, erfolgreiche Menschen, die trotz harter Fakten und messbarer Leistungen das Gefühl hatten, totale Blender zu sein.
Die Definition ist eigentlich simpel: Du hast objektive Beweise für deine Kompetenz – Abschlüsse, erfolgreiche Projekte, positive Bewertungen – aber dein Gehirn weigert sich standhaft, das anzuerkennen. Stattdessen schiebst du jeden Erfolg auf Glück, Timing oder die Tatsache, dass die anderen einfach zu nett waren, um dir die Wahrheit zu sagen. Misserfolge? Die sind natürlich der ultimative Beweis dafür, dass du ein Fake bist.
Das wirklich Irre daran: Studien zeigen immer wieder, dass dieses Phänomen besonders häufig in leistungsorientierten, kompetitiven Arbeitsumgebungen auftritt. Wir reden hier von Ärztinnen und Ärzten, Führungskräften, Wissenschaftler:innen, Akademiker:innen – Menschen, die nachweislich richtig gute Arbeit leisten. Die Konsequenzen sind real und nicht nur „im Kopf“ – sie können zu messbarem Leistungsabfall und Burnout führen.
Warum ausgerechnet die Besten am heftigsten zweifeln
Normalerweise würde man denken: Je mehr du erreichst, desto sicherer wirst du dir deiner Fähigkeiten, oder? Falsch. Beim Hochstapler-Syndrom funktioniert es genau andersherum. Je höher du kletterst, desto panischer wirst du.
Der Grund liegt in einer kognitiven Verzerrung, die Psychologen als Attributionsbias bezeichnen. Dein Gehirn sortiert Erfolge und Misserfolge in komplett verdrehte Schubladen: Erfolge gleich extern – „War Zufall“, „Die anderen waren nachsichtig“, „Ich hatte halt Glück“. Misserfolge gleich intern – „Ich bin nicht gut genug“, „Das beweist, dass ich nichts kann“. Diese mentale Gymnastik sorgt dafür, dass kein einziger Erfolg jemals als Beweis für deine Kompetenz durchgeht.
Und hier kommt der Kicker: Bei hochqualifizierten Menschen wird das Problem noch schlimmer. Warum? Weil sie oft mit Perfektionismus kämpfen. Sie setzen ihre Standards so unrealistisch hoch, dass sie sie praktisch nie erreichen können. Ein Projekt, das mit 95 Prozent Zufriedenheit abgeschlossen wird? Zählt nicht, weil es keine perfekten 100 Prozent waren. Diese Leute schrauben ihre Messlatte so hoch, dass selbst herausragende Leistungen in ihren Augen nur „okay“ sind.
Der Teufelskreis, der sich immer wieder dreht
Pauline Clance hat das, was sie den Impostor-Zyklus nennt, ziemlich präzise beschrieben. Es läuft immer nach dem gleichen Muster ab, und wenn du davon betroffen bist, wirst du es sofort wiedererkennen.
Phase eins: Neue Aufgabe taucht auf. Sofortige Panik – „Das schaffe ich nie. Ich bin nicht qualifiziert dafür.“ Phase zwei: Du reagierst auf eine von zwei Arten – entweder stürzt du dich mit krankhaftem Perfektionismus in die Arbeit und bereitest dich bis zum Umfallen vor, oder du prokrastinierst bis zur absolut letzten Sekunde und arbeitest dann unter maximalem Stress.
Phase drei: Du schließt die Aufgabe erfolgreich ab – weil du ja tatsächlich kompetent bist, auch wenn du das nicht glaubst. Phase vier: Statt Erleichterung kommt die Rationalisierung. Hast du viel Zeit investiert? „Nur deshalb hat es geklappt, nicht wegen meiner Fähigkeiten.“ Hast du es in letzter Minute geschafft? „War einfach Glück.“ Die ursprüngliche Angst bleibt komplett intakt. Und beim nächsten Projekt? Startet die ganze Scheiße von vorne.
Wer besonders gefährdet ist und warum
Das Hochstapler-Syndrom ist kein Nischenphänomen. Forschung zeigt, dass es verdammt weit verbreitet ist, besonders in bestimmten Gruppen. Systematische Übersichtsarbeiten haben in verschiedenen Studien signifikante Anteile von Menschen mit ausgeprägtem Impostor-Erleben gefunden – wir reden hier von etwa 20 bis 30 Prozent in Hochleistungsgruppen.
Besonders hart trifft es Menschen in neuen oder höheren Positionen. Frisch Beförderte zum Beispiel. Oder Berufseinsteiger:innen in prestigeträchtigen Firmen, die plötzlich von Leuten umgeben sind, die sie für brillant halten. Auch sogenannte First-Generation-Studierende – also Menschen, die als Erste in ihrer Familie ein bestimmtes Bildungslevel erreichen – berichten überdurchschnittlich häufig von diesen Gefühlen.
Und dann gibt es noch die Perfektionisten. Studien haben wiederholt gezeigt, dass Menschen mit rigiden, selbstkritischen Leistungsstandards deutlich häufiger Impostor-Tendenzen zeigen. Wenn deine innere Stimme ständig „nicht gut genug“ schreit, egal wie gut du tatsächlich bist, dann ist das Hochstapler-Syndrom dein ständiger Begleiter.
Die Konsequenzen sind alles andere als harmlos
Jetzt könnte man denken: „Okay, ein bisschen Selbstzweifel – ist doch nicht so schlimm, oder?“ Falsch. Die Auswirkungen des Hochstapler-Syndroms sind messbar und teilweise heftig. Wir reden hier nicht nur über ein unangenehmes Gefühl, sondern über echte gesundheitliche und berufliche Konsequenzen.
Studien – unter anderem mit Medizinstudierenden – haben gezeigt, dass höhere Ausprägungen des Impostor-Phänomens signifikant mit Burnout korrelieren. Und nicht nur das: Auch Angststörungen und depressive Symptome treten häufiger auf. Der chronische Stress durch die ständige Angst vor „Entlarvung“ kann zu messbarem Leistungsabfall führen. Die Ironie: Menschen mit Hochstapler-Syndrom arbeiten sich kaputt, um ihre vermeintliche Inkompetenz zu vertuschen, und brennen dabei aus.
Auf beruflicher Ebene führt das Ganze zu massiver Selbstsabotage. Betroffene lehnen Beförderungen ab, weil sie sich nicht gewachsen fühlen. Sie verhandeln ihr Gehalt nicht, weil sie denken, sie verdienen eh schon zu viel für das, was sie leisten. Sie melden sich in Meetings nicht zu Wort, obwohl sie wertvolle Beiträge haben. Das Resultat? Verschwendetes Potenzial auf ganzer Linie.
Warum es keine offizielle Störung ist und was das bedeutet
Eine wichtige Klarstellung: Das Hochstapler-Syndrom ist keine offizielle psychische Störung. Du findest es weder im DSM-5 noch in der ICD-11 – den beiden großen Klassifikationssystemen für psychische Erkrankungen. Es ist ein psychologisches Phänomen, ein Denk- und Erlebensmuster, aber keine Diagnose im medizinischen Sinne.
Das bedeutet nicht, dass es nicht real ist. Es bedeutet nur, dass es nicht als eigenständige Krankheit behandelt wird. Stattdessen wird es oft im Kontext von Angst, Depression, Perfektionismus und beruflichem Stress untersucht. Die Abgrenzung ist wichtig, weil sie verhindert, dass normale menschliche Selbstzweifel pathologisiert werden. Gleichzeitig sollte sie nicht dazu führen, dass das Leiden der Betroffenen heruntergespielt wird.
Der bizarre Zusammenhang mit echter Kompetenz
Hier wird es richtig absurd. Es gibt Hinweise darauf, dass Menschen mit hoher Kompetenz eher dazu neigen, ihre Fähigkeiten zu unterschätzen. Kennst du den Dunning-Kruger-Effekt? Das ist das Phänomen, bei dem Menschen mit niedriger Kompetenz ihre Fähigkeiten massiv überschätzen, während Menschen mit hoher Kompetenz eher zur Unterschätzung neigen.
Das Hochstapler-Syndrom ist sozusagen die Extremversion dieser unterschätzenden Seite. Je mehr du weißt, desto mehr wird dir bewusst, wie viel du noch nicht weißt. Und wenn du ein Perfektionist bist, interpretierst du diese Wissenslücken als Beweis deiner Inkompetenz – statt als normalen Teil des Lernprozesses.
Die Ironie ist also: Die Leute, die am stärksten unter dem Hochstapler-Syndrom leiden, sind oft die, die objektiv gesehen am wenigsten Grund dazu haben. Ihre Qualifikationen sind real. Ihre Erfolge sind verdient. Ihre Fähigkeiten sind vorhanden. Aber ihr Gehirn weigert sich, das anzuerkennen.
Was moderne Arbeitswelten damit zu tun haben
Unsere heutigen Arbeitsumgebungen sind wie maßgeschneidert dafür, das Hochstapler-Syndrom anzufeuern. Ständige Performance-Reviews, öffentliche Leistungsvergleiche, soziale Medien, auf denen jeder nur seine Erfolge postet – all das schafft einen Nährboden für chronische Selbstzweifel.
Studien zeigen, dass leistungsorientierte, wenig fehlertolerante Kulturen mit höherer Impostor-Ausprägung einhergehen. In Umgebungen, in denen Scheitern als persönliches Versagen statt als Lernchance gesehen wird, wird es besonders schwer, zuzugeben: „Ich weiß das nicht“ oder „Ich brauche Hilfe“. Stattdessen bauen alle eine Fassade der Kompetenz auf, hinter der sich oft massive Unsicherheiten verbergen.
Und weil alle diese Fassade aufrechterhalten, denkt jeder, er sei der Einzige, der sich so fühlt. Eine kollektive Illusion der Inkompetenz unter objektiv kompetenten Menschen. Klingt verrückt, ist aber Realität in vielen modernen Unternehmen.
Was du tun kannst, wenn du dich wiedererkennst
Wenn du beim Lesen gemerkt hast, dass das alles verdammt vertraut klingt, dann gibt es gute Nachrichten: Du bist nicht allein, und du bist nicht verrückt. Systematische Übersichtsarbeiten zu diesem Thema haben in verschiedenen Gruppen – von Studierenden über Ärzt:innen bis zu Führungskräften – relevante Anteile von Menschen mit Impostor-Erleben gefunden.
Der erste Schritt ist zu verstehen, dass das Hochstapler-Syndrom ein psychologisches Muster ist – und nicht die objektive Realität. Deine Erfolge sind überprüfbare Fakten. Die Zweifel sind interpretierende Gedanken, die du verändern kannst.
Interventionen, die auf das Hinterfragen und Umlernen solcher Denkmuster abzielen, ähneln Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie und wurden in ersten Studien als hilfreich beschrieben. Dokumentiere deine Erfolge konkret und messbar – Projektziele, Rückmeldungen, Ergebnisse. Lies sie regelmäßig durch. Dein Gehirn hat selektive Wahrnehmung, ein Erfolgsprotokoll korrigiert das.
Sprich mit Kolleg:innen oder Freund:innen über deine Zweifel. Studien zeigen, dass soziale Unterstützung negative Effekte des Impostor-Phänomens abpuffern kann. Du wirst überrascht sein, wie viele genau das Gleiche fühlen. Übe bewusst, Komplimente anzunehmen ohne sie sofort zu relativieren. Sag einfach „Danke“ statt „War doch nichts Besonderes“.
Arbeite daran, Fehler als Lerngelegenheiten zu sehen statt als Identitätsurteil. Ein Fehler bedeutet nicht „Ich bin unfähig“, sondern „Ich habe etwas gelernt“. Und hole dir professionelle Hilfe, wenn die Selbstzweifel deine Lebensqualität, Gesundheit oder Karriereentscheidungen massiv beeinträchtigen. Psychologische Interventionen können Impostor-Symptome und damit verbundene Belastungen reduzieren.
Die Wahrheit hinter dem Paradox
Das Hochstapler-Syndrom ist und bleibt eines der bizarrsten Paradoxe moderner Arbeitswelten. Viele objektiv kompetente Menschen fühlen sich subjektiv wie totale Blender. Die Besten zweifeln am meisten. Die Erfolgreichsten haben Angst, als Versager entlarvt zu werden.
Aber hier ist die eigentliche Wahrheit: Die Überzeugung, dass alle anderen es wirklich draufhaben und nur du nicht, ist kompletter Bullshit. Forschung zeigt, dass viele Menschen – auch sehr erfolgreiche – sehr ähnliche Zweifel haben. Sie sprechen nur nicht darüber. Die „echten Experten“, die du bewunderst? Die haben meistens genau die gleichen Ängste wie du. Sie haben nur gelernt, diese Ängste nicht über ihre Identität definieren zu lassen.
Kompetenz und Zweifel schließen sich nicht aus. Studien weisen sogar darauf hin, dass ein gewisses Maß an Selbstkritik mit Lernbereitschaft und realistischeren Selbsteinschätzungen einhergehen kann. Das Problem entsteht, wenn diese gesunde Selbstreflexion in chronische Selbstsabotage umschlägt.
Dein Erfolg ist kein Zufall. Deine Position hast du verdient. Und die Tatsache, dass du manchmal zweifelst, macht dich nicht zu einem Hochstapler – sie macht dich zu einem Menschen, der noch Raum zum Wachsen hat. Genau wie alle anderen auch. Der Unterschied ist nur: Manche haben aufgehört, sich davon fertigmachen zu lassen. Und das kannst du auch.
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